Interessieren Sie sich für Börse und das Investment in Aktien? Dann können Sie mir vielleicht weiterhelfen, denn ich frage mich, warum Menschen in Unternehmen investieren, die öffentlich zugeben, dass sie die Digitalisierung nicht beherrschen? Wie ich darauf komme? Das ist relativ einfach und meine Argumentationskette sieht dabei wie folgt aus: An der Börse wird die Zukunft gehandelt, das dürfte unstrittig sein. Die Zukunft aller Unternehmen ist mit Sicherheit daran geknüpft, wie gut Unternehmen für die Digitalisierung gerüstet sind. Ein Kernaspekt der Digitalisierung ist jedoch, wie gut es Unternehmen gelingt, innovative digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln, um neue Märkte, neue Kundengruppen für sich zu gewinnen und um letztendlich Wachstum zu generieren. Was zeichnet also diese neuen digitalen Geschäftsmodelle konkret aus? Sie werden letztendlich durch innovative Prozesse umgesetzt. Die Fähigkeit, die richtigen Prozesse effizient umsetzen, betreiben und an Veränderungen anpassen zu können, wird zukünftig über das Überleben von Unternehmen entscheiden. Darüber habe ich auch auf meiner Webseite schon mehrfach geschrieben, zuletzt in diesem Artikel über das „Innovator’s Dilemma“ und dessen Lösung über den „Prozessgesteuerten Ansatz“.
Selbst klassische Produkthersteller werden nicht umhinkommen, neben hervorragenden Produkten zukünftig auch begleitende Dienstleistungen in Form von Prozessen umzusetzen. Von daher ist es sicherlich nicht zu gewagt zu sagen, dass ein Unternehmen genau dann gut für die Zukunft gerüstet und damit investitionswürdig ist, wenn es seine Prozesse beherrscht. Soweit, denke ich, spricht sicherlich nicht allzu viel gegen diese Argumentationskette.
Nun gibt es aber Unternehmen, die sich tatsächlich öffentlich dazu bekennen, dass sie diesen wichtigen Zukunftsaspekt (die Beherrschung ihrer Prozesse) schon heute nicht erfüllen. Woher soll ich als Investor also dann das Vertrauen nehmen, dass sich dies zukünftig ändern wird? Kurz: Warum sollte ich dann gerade in diese Unternehmen investieren?
Ich kann Ihnen darauf leider auch keine Antwort geben, genau deshalb richte ich meine Frage ja an Sie, weil derartige Investitionen trotz der Kenntnis über diese Unzulänglichkeiten tagtäglich durchgeführt werden!
Einen Punkt habe ich natürlich bewusst offen gelassen, Sie haben es sicherlich gemerkt. Wo geben Unternehmen denn bitteschön öffentlich zu, dass sie ihre Prozesse nicht beherrschen und warum machen sie das überhaupt? Ist es nicht höchst fragwürdig oder sogar geschäftsschädigend, wenn Unternehmen ein derartiges öffentliches Bekenntnis abgeben?
Ich kann Ihnen diesbezüglich nur Recht geben – auch ich verstehe es nicht. Aber dennoch tun sie es – unwissentlich. Sie verpacken diese „geheime Botschaft“ in Form von Erfolgsgeschichten! Der Schlüssel zum Verständnis meiner Schlussfolgerungen hängt mit dem Einsatz sogenannter Process Mining-Software zusammen. Überspitzt ausgedrückt wird Process Mining von Unternehmen genau dann eingesetzt, wenn sie die Kontrolle über ihre Prozesse verloren haben und letztendlich nicht mehr durchblicken. Process Mining kann dann Licht ins Dunkel bringen, indem die Abläufe grafisch aufbereitet werden.
Sie glauben mir nicht? Dann machen wir es konkret: Ich greife dabei auf Siemens als Beispiel zurück. Siemens hat auf der Kundenseite von Celonis, einem der führenden Hersteller von Process Mining-Software, eine solch vermeintliche „Erfolgsgeschichte (Success Story)“ veröffentlicht. Dort heißt es ziemlich unzweideutig: „Bei einer nahezu unendlichen Anzahl von Geschäftsvorgängen sind die Prozesse in einem Unternehmen wie Siemens hochkomplex und wenig transparent.“ Später heißt es dann: „Die Verantwortlichen müssen die Optimierung bewerten, indem sie Transparenz nutzen, die Process Mining geschaffen hat.“
Was hier in Marketing-Worten so schön mit „nicht vorhandener Transparenz“ verklausuliert wird, bedeutet letztendlich nichts anderes als Kontrollverlust. Siemens versteht also ihre eigene Prozesswelt und damit eigentlich auch ihr Geschäft nicht so richtig. Eine für mich zumindest mehr als fragwürdige Außendarstellung eines Unternehmens und ich frage mich natürlich auch, warum Unternehmen so etwas tun? Siemens ist ja weiß Gott nicht das einzige Unternehmen, das sich derart zur Schau stellt. Sie können sich einen x-beliebigen Hersteller von Process Mining-Software herausgreifen und sich auf deren Webseite nach Kundenreferenzen umsehen. Sie werden staunen, was sich da so alles entdecken lässt. Um bei Celonis zu bleiben, finden sich auf deren Webseite der Kundenreferenzen so illustre Unternehmen wie Vodafone, Lufthansa, Dell, Campari, MediaMarktSaturn, Deutsche Telekom, Uber, ABB, Zalando usw. usw. Wahrscheinlich liegt die Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ in dem Glauben dieser Unternehmen, durch eine derartige Veröffentlichung ihre fortschrittliche Haltung zum Ausdruck bringen zu können. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall: Sie machen deutlich, dass sie eine ganz entscheidende Fähigkeit für einen zukünftigen Erfolg in der Digitalisierung vermissen lassen: Die Beherrschung ihrer Prozesse!
Wir halten also fest:
- Der Einsatz von Process Mining zeigt die Unfähigkeit eines Unternehmens, sein Geschäft effizient zu führen und ist ein ernstzunehmendes Alarmsignal.
- Der Einsatz zeigt gleichzeitig, wie schlecht das Unternehmen für die digitale Zukunft gerüstet ist! Denn wenn es schon heute seine Prozesse nicht beherrscht, wie soll dies dann in der Zukunft gelingen, wenn ein effizientes Prozessmanagement für die Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle als essenzielle Kernkompetenz über das Überleben eines Unternehmens entscheiden wird?
- Last but not least zeigt der Process Mining-Einsatz auch, dass das Unternehmen lediglich an der evolutionären Innovation arbeitet und die für seine Zukunft viel wichtigere disruptive Innovation vernachlässigt (falsche Fokussierung).
Stattdessen sollten Unternehmen überlegen, wie sie den Einsatz von Process Mining vermeiden können! Das ist der Schlüssel für die Zukunft! Und wie das erreicht werden kann, habe ich ausführlich auf meiner Webseite erläutert. Wenn Sie mehr über dieses Thema erfahren wollen, empfehle ich Ihnen meine kritische Auseinandersetzung über den Einsatz von Process Mining in Unternehmen. In dem Artikel erfahren Sie auch, wie sich Unternehmen aus dieser gefährlichen Gemengelage befreien können.
Doch nun zurück zu meinem Ausgangspunkt: Nachdem Sie meine Argumentation gelesen und insbesondere obige drei Punkte berücksichtigt haben, können Sie mir jetzt erklären, warum die Tatsache der ungenügenden Vorbereitung der Unternehmen auf die digitale Zukunft bei Investitionen keine Rolle zu spielen scheint?
Woher weiß ein Unternehmen eigentlich, dass seine Prozesse optimal eingestellt und damit bestmöglich effektiv sind? Könnte es nicht sein, dass Process Mining auch eingesetzt wird, um sich das bestätigen zu lassen oder um zumindest frühzeitig zu erkennen, dass ein Prozess nachjustiert bzw. verändert werden muss?
Hallo Andreas,
schön von Dir zu hören und vielen Dank für Deine spannende Frage!
Ich fange mal mit der Frage nach dem „optimalen Prozess“ an. Wir unterscheiden bei den Prozessen ja zwischen den differenzierenden Prozessen und den Standardprozessen. Unternehmen sollten sich dabei primär auf ihre differenzierenden Prozesse konzentrieren, denn hier können sie sich von der Konkurrenz unterscheiden und Wettbewerbsvorteile erarbeiten. Standardprozesse können Unternehmen beispielsweise durch Standardsoftware abdecken. Ich finde es immer verdächtig, wenn sich Unternehmen mit ihren Standardprozessen beschäftigen, denn eigentlich haben sie schon mit ihren differenzierenden Prozessen genug zu tun. Doch zurück zu den differenzierenden Prozessen: Ich behaupte, dass es DEN optimalen Prozess bei differenzierenden Prozessen nicht gibt, ja nicht geben kann, da sich die Bedingungen im Markt und den Wettbewerbern ständig und äußerst schnell ändern! Auf diese Änderungen müssen Unternehmen reagieren können. Dabei hilft ihnen aber kein Process Mining, sondern nur eine flexible Softwarearchitektur und eine dazu passende Methodik.
Das führt mich dann zum nächsten Punkt: Ja, Unternehmen setzen Process Mining genau dafür ein, ihre Abläufe sichtbar zu machen. Aber die Sichtbarmachung ihrer Prozesse wäre wiederum überflüssig, wenn sie ein Verfahren bei der Implementierung ihrer Prozesse nehmen würden, das bereits von Beginn an auf sichtbare Prozessmodelle setzt und diese dann auch genau so während der Ausführung anzeigt. In diesem Fall wäre Process Mining überflüssig. Und genau das ist ja auch mein Kritikpunkt! So, wie die Unternehmen aktuell Prozesse implementieren (nämlich über Programmierung), sehen sie nachher nichts – rein gar nichts! Die Abhängigkeit von Process Mining wird folglich ständig größer, statt sie abzubauen. Ein Teufelskreis. Und wenn sie nicht alsbald etwas dagegen tun, um aus diesen Teufelskreis auszubrechen, wird sich die entstandene Komplexität und das Geflecht von Abhängigkeiten nie abbauen lassen.
Herzliche Grüße,
Volker