Ein kritischer Blick auf den Einsatz von Process Mining in Unternehmen

„Process Mining“ ist sicherlich eines der aktuellen IT-Top-Themen schlechthin. Unternehmen jeglicher Couleur brüsten sich mit dessen Einsatz. Das Internet ist voller Hurra-Artikel über Process Mining und den Erfolgen, die Unternehmen damit erzielen konnten. Welche zweifelhafte Außenwirkung ein solches Bekenntnis von Unternehmen zu Process Mining jedoch auch haben kann, möchte ich in diesem Beitrag thematisieren. Zudem sollte es vielmehr das Ziel eines jeden Unternehmens sein, sich vom Einsatz von Process Mining zu befreien! Wie der Weg dorthin aussieht ist ebenfalls Gegenstand dieses Artikels.

Um meine Argumentationskette dazu besser verstehen zu können, muss ich kurz auf die Besonderheiten von Process Mining eingehen. Damit Sie mir auch glauben, was ich Ihnen gleich über Process Mining schreiben werde, verweise ich auf das sogenannte Process Mining Manifest, das von den weltweit führenden Process Mining-Experten verfasst wurde, mit Wil van der Aalst an der Spitze, sicherlich der herausragende Kopf hinter Process Mining. Auf der Webseite processmining-software.com  wird er gar als „Godfather of Process Mining“ bezeichnet.

Das Process Mining Manifest

In dem Process Mining Manifest wird festgehalten, worum es bei Process Mining eigentlich geht sowie welche Ziele und Absichten mit Process Mining verfolgt werden. Dazu zitiere ich gleich den entscheidenden Satz von Seite 1, der uns durch den Rest des Artikels begleiten wird:

Die Grundidee von Process Mining ist es, reale Prozesse (im Gegensatz zu vermuteten oder angenommenen Prozessen) durch Extrahieren von Wissen aus Ereignislogs heutiger (Informations-) systeme zu erkennen, zu überwachen und zu verbessern.

Diesen Satz müssen wir jetzt erst einmal verdauen :-). Er fasst jedoch sehr schön die wesentlichen Ideen von Process Mining zusammen. Fangen wir mit der Erkennung realer Prozesse an. Es geht also darum (man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen), in Unternehmen die realen Prozesse zu erkennen. Folglich kennen Unternehmen ihre realen Prozesse ohne den Einsatz von Process Mining nicht! Ist das nicht verrückt? Um es deutlich auszudrücken und Ihnen bewusst zu machen:

Unternehmen haben keine Ahnung darüber, wie was abgewickelt wird, was also in ihrem Unternehmen prozesstechnisch geschieht!

Bestellprozess? Keine Ahnung! Auslieferungsprozess? Keine Ahnung! Produktionsprozess? Keine Ahnung. Retourenprozess? Keine Ahnung! Reparaturprozess? Keine Ahnung! Beschwerdeprozess? Keine Ahnung! Usw. Usw.

W. Edwards Deming, den ich ja auch auf meiner Homepage zitiere, formuliert diesen Sachverhalt in Unternehmen wie folgt: „If you can’t describe what you are doing as a process, you don’t know what you’re doing“ (Wenn Sie das, was Sie tun, nicht als Prozess beschreiben können, dann wissen Sie auch nicht, was Sie tun).

Eigentlich unfassbar, oder? Aber es ist tatsächlich so! Gehen Sie mal in ein Unternehmen und fragen nach den Details eines x-beliebigen Prozesses. Sie werden erschüttert sein, wie wenig darüber bekannt ist! Andererseits erleben wir es ja Tag für Tag am eigenen Leibe, wie fürchterlich Prozesse ablaufen. Mal den Telefonanbieter gewechselt? Dann wissen Sie, wovon ich rede…

Sie werden jetzt sicherlich sagen: Aber die Unternehmen machen doch trotzdem Geschäfte, also muss es doch irgendwie laufen. Korrekt, es läuft auch irgendwie, aber niemand weiß, wie es genau abläuft! Und wenn man nicht sieht, wie die Prozesse ablaufen, weil eben viele dieser Prozesse in Software gegossen (und somit unsichtbar) sind, navigiert das Management ein Unternehmen wie einen Tanker im dichten Nebel! Gefährlich!

Prozesse visualisieren unter Einsatz von Process Mining

Genau an diesem Punkt setzt jetzt Process Mining ein: Es möchte diese Unternehmensabläufe sichtbar machen, den Nebel also lichten. Die Logik dahinter ist relativ einfach: Nur was ich sehe, kann ich analysieren und auch verbessern. Aber ohne Process Mining sehen die Verantwortlichen die Prozesse nicht, da sie unsichtbar für Außenstehende in Computerprogrammen vergraben sind. Process Mining will diese Prozesse, bildlich gesprochen, jetzt wieder ausgraben (daher auch der Begriff „Mining“). Und wie macht Process Mining Prozessabläufe sichtbar? Die Antwort steht oben in dem Zitat: Über sogenannte Ereignislogs.

Was sind Ereignislogs? Es sind die Logbücher von Computerprogrammen. So wie ein Kapitän eines Schiffes (oder auch Captain Kirk auf der USS Enterprise) besondere Ereignisse und Situationen unter Angabe von Datum und Uhrzeit in seinem Logbuch vermerkt, so vermerkt auch jedes Computerprogramm protokollwürdige Ereignisse chronologisch in seinem Logbuch. Jeder Logbuch-Eintrag entspricht also einem Ereignis. Beispiele derartiger Ereignisse in Unternehmen sind das Anlegen eines Auftrags, die Qualitätskontrolle eines Produktes, die Entnahme eines Produktes aus dem Lager, die Retoure eines Produktes usw.

Unglücklicherweise besitzen Unternehmen nicht nur ein, sondern zigtausende derartiger Computerprogramme, die alle ihre eigenen Logbücher schreiben. Die Logbücher sind jedoch alle unterschiedlich. Es gibt keinen Standard, der vorschreibt, wie diese Logbücher über die Programme hinweg einheitlich zu erstellen sind. Erschwerend kommt jetzt noch hinzu, dass Unternehmensprozesse diese schreckliche Eigenschaft besitzen, sich über mehrere dieser Programme zu erstrecken. Die Prozesse führen also Veränderungen in mehreren dieser Programme durch.

So langsam bekommen Sie vielleicht ein Gefühl dafür, warum Unternehmen nicht mehr verstehen, was sie eigentlich tun: Durch die im Laufe der Zeit entstandene Komplexität von Computersystemen und Programmen sowie deren Verflechtungen geht jegliche Übersicht hinsichtlich des Gesamtablaufes kompletter Prozesse über diese Systeme hinweg verloren!

Jetzt kommt Process Mining ins Spiel. Process Mining sammelt nämlich die Logbuch-Einträge sämtlicher Systeme ein, ordnet die Ereignisse den passenden Prozessen zu und bringt sie aufgrund der vorhandenen Zeitstempel, die ja pro Ereignis mitprotokolliert werden, in eine zeitliche Reihenfolge. Je Geschäftsvorfall (z.B. Auftragsbearbeitung) kann Process Mining basierend auf den Logbuch-Einträgen die real abgelaufenen Prozesse rekonstruieren und visuell aufbereiten. Ein Beispiel einer solchen Prozessrekonstruktion sehen Sie in folgender Abbildung:

Abbildung 1: Celonis Variantenexplorer. Bildnachweis: Celonis

Die Abbildung zeigt den Varianten-Explorer von Celonis. Celonis ist einer der bedeutendsten Hersteller von Process Mining Software. In der Abbildung können Sie anhand der Pfeile sehr schön erkennen, in welcher Reihenfolge die einzelnen Aufgaben des Prozesses wirklich abgearbeitet wurden. Diese Reihenfolge ergab sich einzig und allein aufgrund der analysierten Logbuch-Einträge! Sie erlaubten dadurch obige Prozess-Rekonstruktion. Nicht schlecht, oder?

Allerdings müssen Sie bei einer solchen Rekonstruktion noch folgenden Hintergrund wissen: Eine Prozessrekonstruktion nach dem oben beschriebenen Verfahren kann nur so gut sein, wie es entsprechende Logbuch-Einträge gibt. Überall, wo es keine passenden Logbucheinträge gibt (und die gibt es noch zur Genüge), bleibt auch bei Process Mining das wahre Prozessverhalten verborgen. Process Mining kann also Prozesse nur mit gewissen Lücken rekonstruieren. Nutzer von Process Mining-Lösungen müssen sich also stets dieser Unzulänglichkeiten bewusst sein!

Nun zurück zu unserem einleitenden Zitat. Sie verstehen vielleicht jetzt auch besser, warum in obigen Zitat von „realen Prozessen“ die Rede war: Die erzeugte Darstellung beruht ja auf real erzeugten Logbuch-Einträgen, also Fußspuren, die ein Prozess während seiner Ausführung hinterlassen hat. Deshalb zeigt die Abbildung auch genau das an: Die Wirklichkeit! So arbeitet das Unternehmen also wirklich!

Warum muss das so betont werden? Sollte das nicht eine Selbstverständlichkeit sein? Nein, genau das ist es eben nicht, eine Selbstverständlichkeit: Wegen der oben beschriebenen Komplexität von Computersystemen und Programmen haben Unternehmen längst den Überblick verloren, wie was exakt abläuft. Sie vermuten und nehmen an (um bei den Begriffen aus obigen Zitat zu bleiben), dass ein Prozess in gewisser Weise abläuft, aber ohne die Hilfe von Process Mining kann das niemand garantieren!

Die drei Arten des Process Mining

Wie aus dem eingangs erwähnten Zitat ersichtlich wird, nutzt Process Mining die Logbuch-Einträge auf drei verschiedene Arten: Zur Erkennung, zur Übereinstimmungsprüfung (im Zitat mit „überwachen“ bezeichnet) und zur Erweiterung (im Zitat mit „verbessern“ bezeichnet) von Prozessen. Dazu passt die folgende Abbildung aus dem Process Mining Manifest (S. 4):

Abbildung 2: Die drei Arten des Process Mining: (a) Erkennung, (b) Übereinstimmungsprüfung und (c) Erweiterung. Bildquelle: Process Mining Manifest, S. 4

  1. Erkennung: Dabei wird aufgrund der Logbuch-Einträge das Prozessmodell abgeleitet, genau wie wir es oben durchgegangen sind. Das Ergebnis der Erkennung war in Abbildung 1 zu sehen.
  2. Übereinstimmungsprüfung: Dabei wird ein im Unternehmen bereits vorhandenes Soll-Prozessmodell mit den real festgestellten Logbuch-Einträgen verglichen und die Abweichungen analysiert. Anschließend kann dann eine Diagnose getroffen werden, warum sich der Prozess in der Realität anders als erwartet verhält.
  3. Erweiterung: Bei der Erweiterung geht es darum, den Prozess zu verbessern. Dazu werden das ursprüngliche Soll-Prozessmodell und die Logbuch-Einträge herangezogen, um aus den gewonnenen Erkenntnissen ein neues, optimiertes Prozessmodell zu erstellen. Damit der neue Prozess im Unternehmen danach auch wirken kann, folgt in der Regel ein Projekt, in dem das neue Modell implementiert wird. Auf diese Weise wird (hoffentlich) eine Übereinstimmung zwischen Modell und Wirklichkeit erreicht, was aber wiederum nur durch den Erkennungsschritt nachgewiesen werden kann.

Soweit klingt doch alles ziemlich gut, oder? Doch sehen wir weiter.

Zeugt der Einsatz von Process Mining in einem Unternehmen von dessen zukünftigen Wettbewerbsfähigkeit?

Nach dieser kleinen Exkursion in die Process Mining-Welt und der grundsätzlichen Funktionsweise, möchte ich auf meine kritische Auseinandersetzung mit dessen Einsatz in Unternehmen zurückkommen. Die Kernfrage lautet:

Welche Schlussfolgerungen hinsichtlich
der Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens
können wir aus dem Einsatz von Process Mining ziehen?

Ich habe zumindest, und das gebe ich offen zu, gewisse Zweifel daran, wie gut ein Unternehmen für die Zukunft gerüstet ist, wenn es Process Mining einsetzt, denn: Ein Unternehmen, das auf Process Mining angewiesen ist, um seine Abläufe sichtbar zu machen, gibt indirekt zu, dass es den Überblick über die Abläufe im Unternehmen längst verloren hat und ohne derartige Software überhaupt nicht mehr wüsste, wie es eigentlich arbeitet. Wenn es nämlich den Überblick noch hätte, benötigte es derartige Software doch erst gar nicht, oder?

Wenn ein Unternehmen also schon heute ganz offensichtlich mit Prozessproblemen zu kämpfen hat, warum sollte gerade dieses Unternehmen dann die Zukunft meistern, in der es durch die Digitalisierung um nichts anderes als um Prozesse gehen wird? Die Komplexität scheint ja jetzt schon unbeherrschbar zu sein, sonst würde doch kein Process Mining eingesetzt, oder? Berücksichtigen Sie bitte, dass bei den zukünftigen Herausforderungen der Digitalisierung die neuen digitalen Geschäftsmodelle umgesetzt durch Prozessinnovationen entscheidend sein werden! Also müssen Unternehmen gerade in der Disziplin Prozessmanagement herausragend sein! Trauen Sie diesen Wandel derartigen Unternehmen zu?

Unternehmen finden, die ihre Prozesse ganz sicher nicht beherrschen

Aufgrund obiger Überlegungen ist es also durchaus interessant herauszufinden, welche Unternehmen Process Mining einsetzen. Ergo suchen Sie einfach im Internet nach einem Unternehmen Ihrer Wahl ergänzt um den Zusatz „Process Mining“. Finden sich bei der Suche Treffer, die den Einsatz von Process Mining im Unternehmen dokumentieren, so können sie sicher sein, dass dieses Unternehmen ganz offensichtlich mit Prozessproblemen zu kämpfen hat. Immerhin stellt das Unternehmen dies öffentlich zur Schau. Ob sich das Unternehmen dieser negativen Außendarstellung allerdings bewusst ist, wage ich mal ernsthaft zu bezweifeln ;-).

Sie wundern sich vielleicht, warum es überhaupt zu Treffern kommt. Aufgrund obiger Ausführungen sollte man meinen, dass es Unternehmen peinlich sein sollte, zu einer Notlösung wie Process Mining greifen zu müssen, nur um halbwegs die Übersicht im Unternehmen zu behalten. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall: Unternehmen scheinen geradezu stolz darauf zu sein, Ihren Process Mining-Einsatz in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Es ist tatsächlich kaum zu fassen. Aber suchen Sie mal im Internet mit der Suchkombination „Siemens Process Mining“. Was Sie dann finden, lässt einen die Sprache verschlagen. Dort wird öffentlich zugegeben, dass man, um im Bilde zu bleiben, von seinen Abläufen praktisch keine Ahnung hat. In konkreten Beispielen wurden Produktionsprozesse tatsächlich manuell überwacht (siehe ComputerWeekly.de: Siemens verwendet Process Mining zur Optimierung von Produktionsprozessen)! In der Überschrift heißt es explizit: „Mit der Implementierung von Process Mining Tools hat Siemens einen deutlich besseren Einblick in bestimmte Produktionsengpässe und –probleme erhalten“. Heißt also im Umkehrschluss, dass man vorher fast keinen Durchblick hatte. Doch damit nicht genug: Nur dadurch, dass man jetzt einen besseren Einblick hat, sind die angesprochenen Prozessprobleme ja noch nicht gelöst. Denn die genannten Engpässe und Probleme müssen je noch behoben werden und das geht nur durch ein Implementierungsprojekt, in dem die betroffenen Prozesse durch Software weiter automatisiert werden. Klingt logisch, hat aber einen gravierenden Haken:

Wo wollen Sie denn bei dem offensichtlichen Prozesschaos und bei der Komplexität von Systemen und Programmen eingreifen, ohne dass Ihnen gleich das ganze System um die Ohren fliegt?

Sie müssen sich die Zusammenarbeit der vielen Computerprogramme zu Prozessen wie ein filigranes Schweizer Uhrwerk vorstellen. In so einem eng verwobenen Netzwerk mit unzähligen Abhängigkeiten bringt man nicht mal so auf die Schnelle Änderungen ein, zumal ja der Überblick ohnehin schon längst verlorengegangen ist. Also auch in dieser Hinsicht zeugt der Process Mining-Einsatz nicht von einer vertrauensvollen Umgebung, in der sich leicht die notwendigen Prozessänderungen einbringen lassen!

Die zweifelhafte Werbewirksamkeit von Process Mining für Unternehmen

Ist Siemens das einzige Beispiel für vermeintlich werbewirksame Erfolgsgeschichten über den Process Mining-Einsatz? Aber beileibe nicht! Wie bereits erwähnt, reißen sich Unternehmen förmlich darum, ihre eigenen „Process Mining Success Stories“ zusammen mit den Tool-Herstellern zu veröffentlichen. Gehen Sie beispielsweise mal auf die Kunden-Seite von Celonis. Schon toll, wen man da alles findet: Dell, Siemens, Vodafone, Uber, Lufthansa, Campari, MediaMarktSaturn, Deutsche Telekom usw. usw. Alle sind stolz darauf, dass sie ihre Prozesse nicht beherrschen 😉! Das ist natürlich etwas überspitzt formuliert, aber im Grunde trifft es die Situation schon recht gut :-).

Sie fragen sich sicherlich, warum Unternehmen so etwas tun, wenn sie dadurch doch öffentlich ihre Prozessunzulänglichkeiten preisgeben? Um ehrlich zu sein: Ich weiß es auch nicht und verstehe es auch nicht. Es kann eigentlich nur einen Grund geben: Weil Unternehmen sich der negativen Botschaft einer solchen Veröffentlichung schlicht nicht bewusst sind. Das ist auch kein Wunder, da ja auch die Medien nur in den höchsten Tönen von Process Mining schwärmen. Ja selbst Universitäten sind davor nicht gefeit, wie die bereits weiter oben genannte Webseite über Process Mining Software (processmining-software.com) zeigt. Die Seite wird vom Lehrstuhl für Digital Industrial Service Systems der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg bereitgestellt. Die Unternehmen glauben tatsächlich, sie zeigten durch derartige Veröffentlichungen ihre innovative, fortschrittliche Seite. „Schaut her: Wir sind bei der Prozessanalyse vorne mit dabei. Wir sind für die Digitalisierung bestens gerüstet!“

Doch genau genommen ist das genaue Gegenteil der Fall. Sie zeigen dadurch, wie unvorbereitet sie für den digitalen Wandel eigentlich sind. Dass man den Einsatz von Process Mining also auch ganz anders sehen kann, so wie wir das gerade in diesem Artikel getan haben, darauf kommen die Unternehmen nicht im Traume! Sie wissen schlichtweg nicht, welch zweifelhafte Botschaft sie durch den Einsatz von Process Mining-Software an die Öffentlichkeit senden.

Welche Alternativen haben Unternehmen?

Doch was sollten Unternehmen stattdessen tun? Meiner Meinung nach müssen sich Unternehmen mit dem Ziel auf den Weg begeben, sich von Process Mining-Software zu befreien! Sie müssen bei ihren Prozessen das Heft in die eigenen Hände nehmen und somit selbst Herr der Lage sein!

Es stellt sich danach zwangsläufig die Frage nach dem WIE? Wie können Unternehmen dieses Ziel erreichen? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir uns zunächst ansehen, wie diese verfahrene Situation überhaupt entstanden ist. Sie ist durch die Art und Weise entstanden, wie Prozesse in Unternehmen bisher umgesetzt wurden. Und das war über Jahrzehnte hinweg die Programmierung. Folglich sollten Unternehmen neu über die Art und Weise nachdenken, wie sie zukünftig Prozesse umsetzen wollen. Da die Umsetzung von Prozessen über die Programmierung nicht mehr zeitgemäß ist (zu langsam, zu fehleranfällig, zu mühsam zu pflegen, zu unflexibel, zu unübersichtlich), muss über Alternativen nachgedacht werden. Es gibt meiner Ansicht nach nur einen Weg in die digitale Prozesszukunft und der führt über grafische Prozessmodelle, die so, wie sie modelliert wurden, auch ausgeführt werden! Grafische Prozesse als Programmcode sozusagen. Wie man dies richtig angeht, genau das zeigt der „Prozessgesteuerte Ansatz“.

Der „Prozessgesteuerte Ansatz“ ist daher der Weg in eine Prozesszukunft, die dann kein Process Mining mehr benötigt.

Warum macht der „Prozessgesteuerte Ansatz“ Process Mining überflüssig?

Wenn wir uns nochmals die drei Arten des Process Minings in Erinnerung rufen, wird deutlich, warum Process Mining mit dem „Prozessgesteuerten Ansatz“ überflüssig wird:

  1. Erkennen: Da Prozesse nach dem „Prozessgesteuerten Ansatz“ exakt so ausgeführt werden, wie sie modelliert wurden, gibt es nichts zu erkennen. Die Prozessmodelle liegen ja auch während der Ausführung vor und die Unternehmen können jederzeit Einblick in den Status der laufenden Prozesse nehmen. Sie können in die Prozesse hineinschauen!
  2. Übereinstimmungsprüfung: Wird überflüssig, da es ja keine Diskrepanz mehr geben kann. Der modellierte Prozess ist der ausgeführte Prozess. Die Übereinstimmung ist immer gewährleistet. Ganz automatisch.
  3. Erweiterung: Da die Prozessmodelle eins zu eins in ausführbare Prozesse überführt wurden, kann man direkt mit den existierenden Modellen weiterarbeiten und weiß anschließend auch genau, wo die Erweiterungen einzubringen sind. Dies bekommt man beim „Prozessgesteuerten Ansatz“ also geschenkt.

Der letzte Punkt (Erweiterung) verdeutlicht eine weitere Unzulänglichkeit von Process Mining, der zudem etwas mit den aktuell ebenfalls heiß diskutierten Begriffen „Digitalisierung“ und „Digitale Transformation“ zu tun hat (zum Unterschied zwischen diesen beiden Ausdrücken siehe meinen Artikel hier): Es erlaubt Unternehmen lediglich, ihre bereits existierenden Prozesse zu visualisieren und evolutionär weiterzuentwickeln (Digitalisierung). Process Mining unterstützt also bei evolutionären Innovationen (siehe dazu meinen Beitrag hier). Bei den für die Zukunft des Unternehmens viel wichtigeren disruptiven Prozessinnovationen (Digitale Transformation) kann Process Mining einem Unternehmen allerdings nicht weiterhelfen. Hier hilft erneut der „Prozessgesteuerte Ansatz“ mit seiner für disruptive Innovationen ausgerichteten Methodik.

Mein Fazit

Der Einsatz von Process Mining in einem Unternehmen zeigt also, dass…

  • …das Unternehmen seine Prozesse schon heute nicht beherrscht
  • …das Unternehmen für die digitale Transformation und damit für seine Zukunft nicht gerüstet ist
  • …das Unternehmen lediglich an der evolutionären Innovation arbeitet und die für seine Zukunft viel wichtigere disruptive Innovation vernachlässigt (falsche Fokussierung)

Die Zukunft von Unternehmen hängt maßgeblich von deren Fähigkeit ab, die Digitalisierung für sich zu nutzen. Digitalisierung bedeutet jedoch Prozessinnovationen. Also müssen Unternehmen schon heute ihre Prozesse beherrschen. Unternehmen, die Process Mining einsetzen, zeigen deutlich, dass sie diese Prozesskontrolle längst verloren haben und verzweifelt versuchen, diese wiederherzustellen. Offensichtlich ist deren Systemlandschaft so komplex, dass nur über den Notnagel „Process Mining“ die notwendige Transparenz erbracht werden kann. Wenn das Chaos aber schon jetzt so groß ist, sind die betroffenen Unternehmen jedoch denkbar schlecht für die Zukunft aufgestellt. Warum? Weil im Zuge der Digitalisierung Prozessinnovationen effizient entwickelt und betrieben werden müssen, was aufgrund des offen zu Tage getretenen Chaos extrem schwer umzusetzen sein wird. Sowohl die effiziente Entwicklung als auch der effiziente Betrieb von Prozessen müssen zukünftig zu den Kernkompetenzen von Unternehmen gehören!

Einen Ausweg aus dem Dilemma bietet der „Prozessgesteuerten Ansatz“. Statt also über Process Mining nur an den Symptomen herumzudoktern, sollten Unternehmen das Problem an der Wurzel packen und bei zukünftige Neuentwicklungen darauf achten, Process Mining überflüssig werden zu lassen. Aktuell legt nur der „Prozessgesteuerte Ansatz“ ein Fundament für das, was in der Zukunft für die Digitalisierung gefragt sein wird, nämlich…:

…der Erhalt der Handlungsfähigkeit eines Unternehmens bei der Umsetzung neuer digitaler Geschäftsmodelle in Form von Prozessen.

Lassen wir zum Abschluss Wil van der Aalst, dem „Godfather of Process Mining“, nochmals zu Wort kommen. Auf der Webseite processmining-software.com  wird er mit folgenden Zeilen zitiert:

„Not using Process Mining is a sign of self-neglect showing an inability or unwillingness to manage processes properly. Hence, not using Process Mining should require a justification and not the other way around.“

Zu Deutsch: “Der Verzicht auf Process Mining ist ein Zeichen der Selbstvernachlässigung und zeigt die Unfähigkeit oder den Unwillen, Prozesse richtig zu managen. Daher sollte der Verzicht auf Process Mining einer Begründung bedürfen und nicht andersherum.”

Dem möchte ich entgegenhalten: Der Einsatz von Process Mining zeigt die Unfähigkeit eines Unternehmens, sein Geschäft effizient zu führen und ist ein ernstzunehmendes Alarmsignal. Er zeigt gleichzeitig, wie schlecht das Unternehmen für die digitale Zukunft gerüstet ist. Statt an Symptomen herumzudoktern, sollten Unternehmen über die Art und Weise nachdenken, wie sie ihre Prozesse implementieren. Über den „Prozessgesteuerten Ansatz“ können sich Unternehmen prozesstechnisch neu positionieren und sich für innovative digitale Geschäftsmodelle rüsten, die für die Zukunft wettbewerbsentscheidend werden. Nur so können sie sich nachhaltig aus der Zwangsjacke des undurchschaubaren System- und Programmdickichts befreien! Process Mining wird dann überflüssig!

P.S.: Warum ich zudem mit der Bezeichnung „Process Mining“ selbst ein Problem habe und ihn für irreführend halte, erfahren Sie in meinem Artikel mit dem Titel „Wie durch den Einsatz bestimmter Begriffe falsche Erwartungen geweckt werden„.