Digitalisierung vs. Digitale Transformation: Warum Digitalisierung nicht genügt

Manche Begriffe verwenden wir in bestimmten Zeiten fast schon inflationär. In der aktuellen Situation fällt Ihnen sicherlich sofort „Corona“ ein. Ein weiterer Klassiker dürfte „Digitalisierung“ sein. Es gibt heutzutage kaum einen Artikel, der „Digitalisierung“ nicht enthält. Man hat schon fast den Eindruck, Digitalisierung ist der Grund für alles: Wenn etwas besonders gut klappt und positive Wirtschaftszahlen in die Höhe schnellen, da hat die Digitalisierung offenbar funktioniert. Bei weniger guten Neuigkeiten ist der Schuldige auch schnell gefunden: Na klar, die Digitalisierung ist in dem jeweiligen Bereich entweder nicht existent oder schlicht verschlafen worden. Allerdings wage ich ernsthaft zu bezweifeln, dass Schreiber und Leser bei der Verwendung von „Digitalisierung“ tatsächlich auch dasselbe darunter verstehen! Denn es gibt einige wichtige Unterschiede zwischen einer „Digitalisierung“ und einer „Digitalen Transformation“. Tatsächlich bekenne auch ich mich schuldig, auf meiner Webseite und meinen Blog-Beiträgen primär den Begriff „Digitalisierung“ verwendet zu haben, obwohl ich eigentlich die „Digitale Transformation“ gemeint hatte. „Digitalisierung“ geht halt schneller von der Hand und klingt nicht so sperrig wie „Digitale Transformation“. Auch als Verb „digitalisieren“ klingt einfach flotter als „digital transformieren“. Nichtsdestotrotz ist der Unterschied wichtig, eminent wichtig sogar. Es ist also höchste Zeit, einmal genauer auf die Begrifflichkeiten zu achten und die Unterschiede herauszuarbeiten. Vielleicht verwenden Sie zukünftig diese beiden Begriffe auch bewusster, so wie ich Besserung bei der Formulierung zukünftiger Blog-Beiträge und Artikel gelobe. Fangen wir also an!

Ausgelöst wurde meine Auseinandersetzung mit den beiden Begrifflichkeiten durch einen Blog-Beitrag meiner Kollegin Prof. Dr.-Ing. Evi Hartmann von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. In Ihrem Beitrag mit dem Titel „Ausgerechnet Estland!“ zeigt Sie auf, welchen Vorsprung sich Estland im internationalen Vergleich im Bereich der digitalen Transformation erarbeitet hat. Gleichzeitig genügen wenige Worte, um den Unterschied zwischen „Digitalisierung“ und „Digitaler Transformation“ zu verdeutlichen. Ich zitiere daher an dieser Stelle aus der Einleitung zu dem lesenswerten Beitrag, in dem Prof. Hartmann auf die Frage eingeht, warum Estland als Digitalisierungs-Vorreiter zu bezeichnen ist. Ihre Antwort:

„Weil in Estland zum Beispiel 99 Prozent der staatlichen Dienste digitalisiert sind; das sind rund 3.000 Anwendungen. Wer beispielsweise seine Steuererklärung macht, macht sie online – wie auch wir, wenn wir Elster nutzen. In Estland dauert so eine digitale Steuerklärung – was schätzen Sie?

Im Schnitt acht Minuten. Das ist der Unterschied zwischen Digitalisierung und Digitaler Transformation. Digitalisierung ist, wenn man ineffiziente analoge Prozesse einfach digital auf Code schreibt. Digitale Transformation dagegen ist, wenn man die Steuererklärung nicht nur codiert, sondern sie zugleich so agilisiert, dass man sie in acht Minuten schafft, auch ohne vorher eine Ausbildung als Steuerberater abgelegt zu haben.

Alles klar? Tatsächlich trifft Prof. Hartmann in wenigen Worten den Nagel auf den Kopf und Sie, meine Leserinnen und Leser, verstehen jetzt wahrscheinlich auch viel besser, warum der Unterschied so wichtig ist! Denn in bereits vorhandenen Prozessen einzelne Schritte durch den Einsatz von IT zu digitalisieren kann tatsächlich nur der Anfang sein. Es ist im Vergleich zur digitalen Transformation, auf der es in der Zukunft der Unternehmen wirklich ankommt, tatsächlich nur ein winziger Schritt und eigentlich nicht der Rede wert. Die Königsdisziplin für jedes Unternehmen auf dem Weg zur digitalen Zukunft ist in Wahrheit die digitale Transformation! Wer einmal diesen Unterschied verstanden hat, wird zukünftig kaum mehr von „Digitalisierung“ sprechen können, da sie nur marginale Verbesserungen für Unternehmen bringt. Der große Wurf kann damit nicht gelingen. Stattdessen müssen sich Unternehmen ganzheitlich mit ihren Prozessen beschäftigen. Nichts anderes verbirgt sich hinter der unscheinbaren Formulierung „agilisieren“, die Prof. Hartmann in obigen Zitat nutzt. Sie macht damit deutlich, wie enorm wichtig Prozesse in der digitalen Transformation sind.

Zu demselben Resultat kommt auch Thorsten Dirks, der in seinem mittlerweile legendären Zitat auf die Missverständnisse bei der Digitalisierung hinweist. Er konstatierte 2015 auf dem Wirtschaftsgipfel der „Süddeutschen Zeitung“:

Wenn sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben sie einen scheiß digitalen Prozess.

So deftig und barsch diese Worte auch klingen mögen, so sehr spricht der Mann mir aus der Seele! Man darf zudem nicht vergessen, in welchem Kontext diese Worte fielen: Wie hier nachzulesen ist, war Thorsten Dirks schlicht und einfach über die miesen Digitalisierungsprojekte frustriert, von denen die Unternehmen glaubten, sie trieben damit die digitale Transformation voran. In Wirklichkeit wird „nur“ digitalisiert. Sie sehen, wie fundamental wichtig dieser Unterschied ist?

Denn es ist exakt so, wie Hr. Dirks es beschreibt: Ein beispielsweise papiergetriebener Prozess wird in seiner Komplexität keinen Deut besser, wenn Sie statt des Papiers Excel-Tabellen einsetzen. Heute sehen wir einen ähnlichen Trend durch den Einsatz von Robotic Process Automation (RPA). Auch hier erliegen Unternehmen den Trugschluss, sie würden digital transformieren. Aber nein, es ist nur eine Digitalisierung! Auch Hr. Dirks verweist unmissverständlich auf die ganzheitliche Prozessbetrachtung als Schlüssel zu einer „richtigen“ Digitalisierung, die wir ab sofort mit „Digitaler Transformation“ bezeichnen wollen.

Der Unterschied ist auch von daher so wichtig, da die Anforderungen an ein Unternehmen, das digital transformieren möchte, ganz andere sind als die Anforderungen, die ein Unternehmen bei einer reinen Digitalisierung zu erfüllen hat. Genau auf diese Unterschiede möchte ich im weiteren Ablauf meines Artikels eingehen. Nur wenn man die Anforderungen und Konsequenzen kennt, die bei einer digitalen Transformation zu berücksichtigen sind, kann das Management informierte Entscheidungen treffen, in welche Richtung es das Unternehmen entwickeln möchte.

Der folgende Vergleich entstammt einem Brainstorming, bei dem ich einfach mal spontan aufgeschrieben habe, was mit zu diesem Vergleich einfiel. Ich habe dazu weder recherchiert noch erhebt die Aufzählung Anspruch auf Vollständigkeit. Es ist und bleibt ein Brainstorming. Gerne freue ich mich auf Ihr Feedback, um die Liste ggf. zu erweitern.

Digitalisierung vs. Digitale Transformation – Ein Vergleich

Ganz oben auf meiner Liste steht natürlich die Prozessfrage. Bei der digitalen Transformation stehen die differenzierenden innovativen Prozesse umgesetzt durch individuell implementierter Software im Mittelpunkt, während bei der Digitalisierung eher Standardprozesse durch den Kauf von Standardsoftware umgesetzt werden. Wettbewerbsvorteile durch individuelle Entwicklung erarbeiten oder doch lieber erst einmal „nur“ mit der Konkurrenz gleichziehen, indem vorgefertigte Lösungen eingekauft werden – das ist an dieser Stelle die Frage, die Sie sich bei der Entscheidung zwischen digitaler Transformation und Digitalisierung stellen müssen. Überhaupt liegt bei der Diskussion um die Digitalisierung der Schwerpunkt meistens auf IT-Themen wie der Zustand der IT-Infrastruktur, der Qualität der Datenleitungen, der Software- und Hardware-Ausstattung für Mitarbeiter zur Ermöglichung von Home-Office, der Sicherheit, Datenschutz usw. Bei der digitalen Transformation hingegen denken Unternehmen über innovative Prozesse nach. Es dreht sich also wieder einmal alles um die Prozessfrage!

Offensichtlich eng verbunden mit der Prozessfrage ist die ewig junge Diskussion hinsichtlich Build und Buy: Sollen Unternehmen Software kaufen oder doch lieber selbst erstellen? Sollen Unternehmen selbst denken (Build) oder denken lassen (Buy)? Über viele Jahre hinweg war die Antwort eindeutig: Na klar – wir kaufen! So erlebte ich es auch bei einem deutschen Mittelständler der Textilindustrie. Auf die Frage, was sie denn über mich als Kunden wüssten, kam die Antwort: Nichts, aber wir kaufen bald ein CRM-System (Customer Relationship Management). Dieses Verhalten und damit verbunden dieses Denken ist symptomatisch und weitverbreitet: Auftretende Herausforderungen werden durch Kauf gelöst. Das ist bei etablierten Standardprozessen prinzipiell auch ein richtiges Vorgehen. Statt diese „nachzubauen“, empfiehlt sich tatsächlich der Kauf (plus Anpassung der Software an die eigenen Gegebenheiten, das sogenannte „Customizing“, plus ein wenig Programmierung). Vorteil dieser Vorgehensweise: Unternehmen müssen keine großen IT-Abteilungen aufbauen. Die vorhandene IT-Mannschaft muss sich „nur“ auf den Betrieb der gekauften Software konzentrieren und brav die geforderten Aktualisierungen einspielen. Allerdings fehlt natürlich wichtiges IT-Know-How, insbesondere das Wissen um den Einsatz der IT für Innovationen. Aber genau das ist für die digitale Transformation überlebenswichtig!

Halten wir also fest: Durch den Kauf von Software wird ein eher evolutionärer Innovationsweg gewählt und ist ein typisches Verhalten für die Digitalisierung. Bei der digitalen Transformation hingegen sprechen wir über disruptive Innovationen umgesetzt durch Prozesse, die so erst noch erstellt werden müssen, da es sie so natürlich nicht zu kaufen geben kann (denn dann ist es ja keine Innovation mehr, sondern ein schon längst etablierter Prozess). Es geht bei der digitalen Transformation also um neue digitale Geschäftsmodelle und um den ganzheitlichen Einsatz von IT für Produkt- und Dienstleistungsinnovationen. Hier bleibt folglich nur der Eigenbau. Bei der Digitalisierung verbleibt man im Wesentlichen bei den bisherigen, oftmals analogen, Geschäftsmodellen und optimiert sie eher punktuell durch den IT-Einsatz.

Das obige Beispiel aus der Textilindustrie verdeutlicht einen weiteren wichtigen Aspekt: In der Digitalisierung denkt man kurzfristig und lösungsorientiert, während die digitale Transformation eher ein langfristiges strategisches Denken fordert. Damit einher geht die Unterscheidung zwischen dem Denken in Systemen (Digitalisierung) im Gegensatz zum Denken in Prozessen (digitale Transformation). So liegt die Innovationskraft bei der digitalen Transformation primär in den Prozessen, während bei der Digitalisierung nach wie vor der Fokus auf dem bisherigen Produkt bzw. der bisherigen Dienstleistung liegt.

Was mich gleich zum nächsten Punkt führt, nämlich der für die digitale Transformation notwendige Wandel der Unternehmen hin zu IT-Unternehmen. An diesem Punkt wird es für manche Unternehmen jetzt tatsächlich so richtig ungemütlich. Denn in Kombination mit der bereits oben diskutierten Prozessfokussierung stellt insbesondere die Softwareentwicklung eine besondere Herausforderung für Unternehmen dar. Konnten sie sich bisher um das Thema Softwareentwicklung herumdrücken, kommen sie bei der digitalen Transformation nicht mehr an ihr vorbei. Das schreckt ab! Jedes nicht auf IT basierte Unternehmen wird seine Kompetenz sicherlich überall sehen, nur nicht in der Softwareentwicklung. Allerdings geht es ohne die Softwareentwicklung in der digitalen Transformation einfach nicht mehr.

Nehmen wir wieder das Beispiel Automobilindustrie. An ihr können wir sehr schön den Wandel vom Produkt hin zu den Dienstleistungen erkennen. Denn wer in dieser Branche noch nicht verstanden hat, dass sich das Auto zu einem fahrenden Smartphone entwickelt und die Zukunft in den softwarebasierten Dienstleistungen liegt, wird nicht überleben. Die herausragende Ingenieurskunst deutscher Autobauer wird im zukünftigen Automobilmarkt praktische keine Rolle mehr spielen! Ja, das ist erschreckend, aber unvermeidbar. Von daher stellen sich Unternehmen besser gleich der Herausforderung und warten nicht ab, bis das Unvermeidliche sie überrollt und in den Abgrund reißt. IT wird sich in zukünftigen Geschäftsmodellen überall wiederfinden (IT everywhere) und verlangt von Unternehmen ein ganzheitliches Produkt-, Prozess- und IT-Wissen. Das ist ganz typisch für die digitale Transformation, während bei der Digitalisierung der lokale IT-Einsatz und das Produktwissen und die Produktführerschaft zum Überleben (noch) genügen.

Erschwerend kommt hinzu, dass bei der digitalen Transformation in der Regel mehrere IT-Innovationen (z.B. Künstliche Intelligenz, Big Data, Internet der Dinge usw.) gleichzeitig zu neuen Prozessen ganzheitlich orchestriert werden müssen, während es bei der Digitalisierung stets um deren punktuellen Einsatz geht. Offensichtlich ist der punktuelle Einsatz einfacher für Unternehmen zu verkraften als die parallele Kombination unterschiedlichster Technologien und Lösungen. Das sind zugegebenermaßen schon ganz besondere Herausforderungen!

Damit einher geht eine massive Veränderung der Rolle der IT in den Unternehmen. Aktuell nimmt die IT eine eher passive, „befehlsempfangende“ Rolle ein, insbesondere wenn es um die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle geht. Innovative Geschäftsmodelle gehen bei einer Digitalisierung nach wie vor primär von der Fachseite aus. Die IT erhält im Anschluss die Informationen in Form von Vorgaben, wie diese Geschäftsmodelle IT-seitig zu begleiten sind. Die IT-Abteilungen überprüfen auf Machbarkeit, greifen ggf. korrigierend ein und liefern letztendlich das Gewünschte ab. Überhaupt ist die IT vom Aufwand und der Belastung her primär damit beschäftigt, den Laden am Laufen zu halten („Keeping the lights on“) und sich nur zweitrangig um neue Geschäftsmodelle zu kümmern.

Diese Haltung ändert sich in der digitalen Transformation grundlegend! Auslöser sind selbstverständlich die neuen digitalen Geschäftsmodelle, die nur über IT-Einsatz und somit nur mit der IT möglich werden. Hier benötigen Unternehmen nun eine gänzlich andere IT, nämlich eine IT, die zum aktiven Partner wird. IT trägt folglich aktiv zur Gestaltung neuer Geschäftsmodelle bei, ist vielleicht sogar Treiber innovativer Ideen. Hier muss tatsächlich ein Umdenken stattfinden, was Unternehmen in festgefahrenen Strukturen relativ schwerfällt.

Damit die IT ihre neue aktive Rolle wahrnehmen kann, muss auf Seiten der Unternehmen Vorsorge betrieben werden, um der IT entsprechende Freiräume zur Gestaltung von Ideen zu schaffen. Denn, wie wir oben gesehen haben, ist die IT aktuell ja hauptsächlich mit Routineaufgaben zur Aufrechterhaltung des Betriebs beschäftigt. Um derartige Aufgaben ist die IT folglich zu entlasten. Auch an dieser Front sind also massive Veränderungen notwendig, denn nur wenn die IT entsprechend zeitliche Luft zum Atmen bekommt, kann sie ihre neue Rolle auch entsprechend ausfüllen.

Die letztgenannte Forderung nach mehr Freiraum für IT-Abteilungen zur Ausübung ihrer neuen Rolle als Ideengeber während der digitalen Transformation verlangt in letzter Konsequenz nach einer weiteren wichtigen Veränderung auf IT-Seite: Den Abbau technischer Schulden. Technische Schulden sind dabei laut Wikipedia wie folgt definiert:

„Unter der technischen Schuld versteht man den zusätzlichen Aufwand, den man für Änderungen und Erweiterungen an schlecht geschriebener Software im Vergleich zu gut geschriebener Software einplanen muss.“

Der Wartungsanteil an Software und damit die Zeit, die IT mit deren Betreuung berücksichtigen muss, steigt also mit dem Anteil schlecht geschriebener Software. Folglich ist das Schreiben schlechter Software tunlichst zu vermeiden. Wie kann das gelingen? Indem wieder einmal ein Umdenken stattfinden muss. Softwareentwicklung muss so betrieben werden, als würde ein Softwareprodukt entstehen. Dies ist von der Art der Softwareentwicklung zu unterscheiden, die lediglich zum Ziel hat, ein Projekt erfolgreich abzuschließen. Denn wenn mit einem Projektdenken an die Softwareentwicklung herangegangen wird, ist das oberste Ziel, das Projekt in vorgegebener Zeit und mit vorgegebenem Budget fertigzustellen. Die Softwarequalität bleibt dabei meistens auf der Strecke. Ganz anders beim Produktdenken: Hier muss der Entwickler auch die Folgen schlechter Softwarequalität ausbaden und bereitstehen, falls es zu Problemen kommt. Dieses Denken ist dem einen oder anderen Leser sicherlich unter dem Begriff DevOps vertraut. DevOps, dieses Kunstwort bestehend aus „Development“ und „Operations“, bringt es auf den Punkt: Der Entwickler (Development) von Software ist auch für dessen Betrieb (Operations) verantwortlich. Oder kurz auf Neudeutsch: „You build it, you run it“. Bei jeder zukünftigen Entscheidung müssen also die Auswirkungen auf die IT und deren Betreuungsaufwand berücksichtigt werden! Im Umkehrschluss müssen Entscheidungen überdacht oder ganz vermieden werden, die die Handlungsfähigkeit der IT durch zusätzliche technische Schulden einschränken! Um es prägnant auf den Punkt zu bringen:

Die Handlungsfähigkeit eines Unternehmens in der digitalen Transformation ist direkt abhängig von der Handlungsfähigkeit ihrer IT!

Von daher ist also die Leistungsfähigkeit der IT für die zukünftige Entwicklung eines Unternehmens kriegsentscheidend. Es muss aus Unternehmenssicht also alles unternommen werden, um die Leistungsfähigkeit zu erhöhen und hoch zu halten. Dies kann nur durch den Abbau technischer Schulden gelingen. Sämtliche Entscheidungen, die diesem Ziel entgegenwirken, sind zu vermeiden. So sind aktuelle IT-Trends, von denen Unternehmen glauben, dass sie sie auf ihrem Weg in die sichere digitale Zukunft begleiten, in dieser Hinsicht völlig kontraproduktiv. Robotic Process Automation (RPA) beispielsweise ist für ein Unternehmen auf dem Weg in die digitale Transformation genau die falsche Technologie, da RPA die oben genannten technischen Schulden erhöht und nicht abbaut. Dasselbe gilt für Microservices, die über Eventing miteinander verknüpft sind oder BPMN-basierte Prozessmodelle, die direkt mit der Systemlandschaft kommunizieren. All diese Lösungsmöglichkeiten mögen für eine Digitalisierung noch akzeptabel sein. Für eine digitale Transformation sind sie aufgrund der Steigerung technischer Schulden und der damit verbundenen Freiheitseinschränkung der IT schädlich! Derartige Technologien sind für eine digitale Transformation zu vermeiden oder, sofern bereits vorhanden, schnellstmöglich abzubauen!

Wir haben es also gleich mit mehreren wichtigen Paradigmenwechseln (IT schlagkräftig und handlungsfähig aufstellen, Produkt- statt Projektdenken, Abbau technischer Schulden) zu tun, die Unternehmen auf dem Weg zur digitalen Transformation begleiten!

Wirft man einen genaueren Blick auf die Vorgehensweise (Methodik) bei Software-Entwicklungsprojekten in der Digitalisierung und der digitalen Transformation, wird folgender Unterschied offensichtlich: Bei der Digitalisierung geht man Bottom-Up vor. Bei Projektstart analysiert das Projektteam den aktuellen Ist-Zustand und versucht punktuell durch Einsatz von IT Verbesserungen herbeizuführen. Ganz anders dagegen das Vorgehen bei der digitalen Transformation: Ohne Berücksichtigung des Ist-Zustandes wird der angestrebte Sollzustand Top-Down entworfen und umgesetzt. Das erspart die mühsame, zeitraubende und kostspielige Ist-Aufnahmen, die bei disruptiven Innovationen, die ja was Neues hervorbringen sollen, ohnehin überflüssig sind. Im Gegenteil: Eine Ist-Aufnahme für Innovationsprojekte ist schädlich, da das Denken der Projektteilnehmer durch den aufgenommenen Ist-Zustand eingeschränkt wird. Sie sind in ihrem Denken nicht mehr frei und derart beeinflusst, dass das Erkennen neuer Wege durch den Ist-Zustand im Kopf übertüncht wird. Auf der anderen Seite ist der Start eines Projektes ohne Aufnahme des Ist-Zustandes für viele Projektteilnehmer ungewohnt. Das Agieren in einem „luftleeren Raum“ löst Unsicherheit aus. Auch das muss, wie so vieles in der digitalen Transformation, erst erlernt werden.

Gravierende Veränderungen begleiten auch das Management eines Unternehmens auf dem Weg in die digitale Transformation. Es genügt nicht mehr, ein Unternehmen und sein Geschäft „nur“ verwalten und mit graduellen Anpassungen in die Zukunft führen zu wollen. So schön der Titel MBA (Master of Business Administration) für Führungskräfte in diesem Kontext auch klingen mag, so verkehrt sind diese Personen bei der Führung eines Unternehmens in die digitale Transformation aufgestellt. Die digitale Transformation verlangt deutlich mehr Unternehmertum als die Digitalisierung, die sich mehr oder weniger am Festhalten des Status Quo orientiert. Bei der digitalen Transformation muss der Wandel von ganz oben kommen! Der CEO höchstpersönlich muss hinter der digitalen Strategie seines Unternehmens stehen und dies auch vorleben. Ohne ein solches persönliches Vorbild für den Kulturwandel und der Veränderung des Mindsets, die in das Unternehmen Einzug hält, ist jede noch so gut gemeinte digitale Transformation zum Scheitern verurteilt!

Mehr Unternehmertum bedeutet aber auch mehr Versuch und Irrtum. Die Zukunft ist ungewiss und welche digitale Maßnahme letztendlich erfolgreich sein wird, ist vorab nicht bestimmbar. Von daher bleibt Unternehmen nichts anders übrig als zu experimentieren. Hier ist natürlich ein IT-Umfeld förderlich, das schnelle Build – Measure – Learn-Zyklen erlaubt. Da es sich bei der digitalen Transformation um softwarebasierte Versuche handelt, ist der bereits oben diskutierte Punkt einer Softwarelandschaft mit nur wenigen technischen Schulden genau der wünschenswerte Ausgangspunkt, um derartige Zyklen effizient umsetzen zu können. Sie sehen daran sehr schön, wie eng verzahnt die jeweiligen Diskussionspunkte sind. Irgendwie hängt alles miteinander zusammen. Umso bedeutender ist folglich eine überzeugende IT-Strategie für das Überleben von Unternehmen! Übrigens ist Versuch und Irrtum nur dann effizient möglich, wenn die Verantwortlichen auch visuell erkennen können, wo Optimierungspotenziale zu heben sind. Von daher muss mehr Transparenz in die IT-Abteilungen Einzug halten. Gewährleistet wird dies beispielsweise in der Prozesswelt durch BPMN-basierte Prozessmodelle, die zur Laufzeit auch genau so durch Process Engines ausgeführt werden.

Ein weiterhin heiß diskutiertes Thema dreht sich um die Frage der Daten: Was ist wichtiger – Daten oder Prozesse? Was sollte der Ausgangspunkt eines Projektes sein – Datenanalyse oder Prozessanalyse? Wieder einmal gibt es keine eindeutige Antwort. Dennoch lässt sich in Bezug zu unserer Diskussion „Digitalisierung vs. digitale Transformation“ folgende Einordnung treffen:

Beginne ich mit der Datenanalyse (= Erkenntnisgewinn) und leite danach eine dazu passende Reaktion in Form eines Prozesses ab (= Handlung), so handelt es sich für mich um eine beeinflusste Kreativität auf Basis existierender Daten (= Vergangenheit). Von daher passt diese Vorgehensweise zur Digitalisierung.

Denke ich aber zunächst frei und damit ohne vorherige Analyse alter Daten über Prozesse sowie deren Auswirkungen nach und analysiere nach Produktivsetzung deren Auswirkungen aufgrund von Datenanalysen, so handelt es sich um eine unbeeinflusste Kreativität. Sie ist der digitalen Transformation zuzuordnen. Kurz lässt sich dieser Sachverhalt wie folgt darstellen:

Erst Datenanalyse, danach Ableitung von neuen bzw. verbesserten Prozessen: Digitalisierung
Erst Entwicklung neuer Prozesse, danach Datenanalyse zur weiteren Prozessoptimierung: Digitale Transformation.

Inspiriert wurde diese Unterscheidung zwischen beeinflusster und unbeeinflusster Kreativität durch Folge 80 der Podcast-Reihe „State of Process Automation“ von Christoph Pacher. In der Folge mit dem Titel „Wie eine Datenkultur die Wertschöpfung in datengesteuerten Unternehmen fördert“ wird intensiv über die Rolle von Daten für Unternehmen diskutiert. Die Vermutung nach Hören dieser Folge legt die Dominanz der Daten in Bezug auf Prozesse nahe. Doch Daten und Prozesse gehören untrennbar zusammen. Durch obige Unterscheidung wird zum Ausdruck gebracht, wie durch die Reihenfolge des Einsatzes der Datenanalyse im Bezug zur Prozesserstellung unterschiedliche Ziele (eben Digitalisierung oder digitale Transformation) erreicht werden. Für mich ergibt sich eine gewisse Dominanz der Prozesse gegenüber der reinen Datenanalyse aus der einfachen Tatsache, dass die besten Analysen ohne nachfolgende Handlungen in Form von Prozessen nutzlos sind.

Last but not least müssen Unternehmen bei der digitalen Transformation über neue Partnerschaften und den Aufbau von Netzwerken nachdenken. Steht bei der Digitalisierung das Alleinkämpfertum noch mehr oder weniger im Mittelpunkt, zeichnet sich die digitale Transformation durch neue Allianzen aus. An dieser Stelle möchte ich an Apple erinnern. Apple gelang es durch die Zusammenarbeit mit der Musikindustrie, eine ganze Branche zu revolutionieren. Apple, ein Hardwarehersteller, mischt mit dem iPod die Musikwelt auf. Statt des Verkaufs von Platten und CDs wird Musik zum Download bzw. zum Streamen bereitgestellt. Ein ganz neues Geschäftsmodell zur Verbreitung von Audioinhalten entsteht. Hier ist also der Ideenreichtum von Unternehmern gefragt, die nächste Innovation in neuen Kooperationen auch für andere Branchen aus der Taufe zu heben.

Ich möchte an dieser Stelle meine Diskussion der Unterschiede zwischen Digitalisierung und digitaler Transformation beenden. Die nachfolgende Tabelle fasst wesentliche Aspekte des Vergleichs nochmals übersichtlich zusammen:

DigitalisierungDigitale Transformation
Buy (+ Customizing + Build): Andere denken lassenBuild: Selber denken und Initiative ergreifen
StandardprozesseDifferenzierende innovative Prozesse
StandardsoftwareIndividualsoftware
Fokussierung auf IT-Themen (Sicherheit, Datenschutz, Datenleitung, IT-Infrastruktur, Ausstattung von Mitarbeitern)Fokussierung auf Prozessinnovationen
Evolutionäre/Erhaltende InnovationDisruptive Innovation
SystemdenkenProzessdenken
Analoge Geschäftsmodelle bleiben im Wesentlichen bestehenNeue digitale Geschäftsmodelle zur Lösung von Kundenproblemen kommen hinzu
Punktueller Einsatz digitaler LösungenGanzheitlicher digitaler Prozessansatz
Kurzfristiges lösungsorientiertes DenkenLangfristiges strategisches Denken
Bottom-up-VorgehenTop-down-Vorgehen
ProduktfokussiertDienstleistungsfokussiert, umgesetzt durch Prozesse
Innovationen primär im ProduktInnovationskraft liegt in den Prozessen, produktbegleitend durch Dienstleistungen
Produktwissen und Produktführerschaft genügen zum ÜberlebenGanzheitliches Produkt-/Prozess-/IT-Wissen sind Voraussetzung zum Überleben
Scope des IT-Einsatzes: lokal begrenztIT Everywhere
Punktueller Einsatz von IT-InnovationenOrchestrierung einer Vielzahl von IT-Innovationen
Projektdenken bei IT-ProjektenProduktdenken bei IT-Projekten
Entwicklung von Geschäftsmodellen: IT passiver Partner; IT ist primär mit dem laufenden Betrieb beschäftigt („Keeping the lights on“)IT aktiver Partner: harmonisches Miteinander von Business und IT.
IT hat auch Luft, Innovationen zu treiben
Aufbau neuer technischer SchuldenBenötigt eine gesunde IT-Basis zum Abbau technischer Schulden
Unternehmen ist ein reines Produkt- und/oder Dienstleistungsunternehmen: IT spielt eine untergeordnete RolleWandel zum IT-Unternehmen: IT treibt zukünftiges Geschäft
AlleinkämpfertumNetzwerke und neue Kooperationen
Verwaltung des Geschäfts genügt (MBA)Verlangt Unternehmertum
Hält am Status Quo festVerlangt Mindset-/Kultur-Wandel – Wandel von oben – CEO als Vorbild
Beeinflusste KreativitätUnbeeinflusste Kreativität
Wird durch Technologie gemacht*Wird durch Menschen gemacht*
Digitalisierung vs. Digitale Transformation

Wenn Sie diese Tabelle mal in Ruhe auf sich wirken lassen, dann sind die in der rechten Spalte zusammengetragenen Herausforderungen der digitalen Transformation wirklich gewaltig! Ich will an dieser Stelle wirklich nichts schönreden. Allerdings steht für mich auch das Folgende ohne jeden Zweifel fest: Die Digitalisierung allein reicht für die anstehenden stürmischen Zeiten des digitalen Wandels bei weitem nicht aus. Von daher war mir auch die Unterscheidung der Begrifflichkeiten zwischen Digitalisierung und Digitaler Transformation so wichtig, damit die völlig unterschiedlichen Konsequenzen, die bei der Entscheidung für den einen oder anderen Weg zu berücksichtigen sind, deutlich werden.

Nur die digitale Transformation ermöglicht Unternehmen ihr Überleben. Wer sich dem verschließt, kann zwar noch einige Jahre auch bei guten Zahlen bestehen. Das ist allerdings trügerisch, denn langfristig müssen sich alle Unternehmen mit der digitalen Transformation auseinandersetzen. Je früher Sie also beginnen, umso besser! Ich würde diesen Artikel natürlich nicht schreiben, hätte ich zum Schluss nicht noch eine versöhnliche Botschaft für Sie: Denn der Prozessgesteuerte Ansatz ist der einzige mir bekannte Ansatz, der Sie IT-seitig auf Ihrem Weg in die digitale Transformation effektiv und effizient begleitet! Der Prozessgesteuerte Ansatz unterstützt Sie als einziger Ansatz positiv bei allen oben diskutierten Punkten. Von daher lohnt sich also die Auseinandersetzung mit dem Prozessgesteuerten Ansatz, wobei Ihnen mein Webauftritt behilflich sein möchte. Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Erfolg auf Ihrer Reise in die digitale Transformation!

*Nach Veröffentlichung dieses Artikels habe ich eine schöne Ergänzung von Hrn. Georg Kästle erhalten. Er schrieb als Reaktion auf meine Ankündigung dieses Artikels auf Xing: „Digitalisierung wird durch Technologie gemacht. Digitale Transformation wird durch Menschen gemacht.“ Mir hat dieses Feedback so gut gefallen, dass ich diesen von Hrn. Kästle so treffend formulierten Unterschied gleich in meiner Tabelle aufgenommen habe. Vor allem zeigt dieser Vergleich aber eines sehr schön: Für die digitale Transformation ist der Mensch mit seiner Kreativität wichtiger denn je. Allein dieser Aspekt sollte doch motivieren, die Menschen auf ihrer Reise in die digitale Transformation mitzunehmen! Daher gilt mein Dank Hrn. Kästle für seinen Beitrag, den ich gerne in meiner Auflistung ergänze.