Wird SAP Opfer des „Innovator’s Dilemma“?

In einem meiner früheren Blog-Beiträge bin ich ja schon einmal auf das hervorragende Buch von Clayton M. Christensen mit dem Titel „The Innovator’s Dilemma – Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren“ [1] eingegangen. Warum ich jetzt nochmals dieses Buch aufgreife, hat mit den jüngsten Ereignissen an der Börse zu tun. Was war passiert? Am Montag, 26.10.2020, gab die SAP ihre Geschäftszahlen bekannt. Gleichzeitig wurde ein Ausblick auf die nächsten Jahre gegeben. Die Reaktionen auf diese Ankündigungen waren allerdings verheerend. In einem Beitrag auf boerse.ard.de heißt es dazu: „Die Aktien des größten europäischen Softwarehauses stürzten am Montag zeitweise um mehr als 22 Prozent abso stark wie zuletzt Anfang 1999. Sie schlossen letztlich bei 97,66 Euro, ein Rückgang um 21,81 Prozent.“

Das ist ein Erdbeben! Während sich in Amerika sämtliche Tech-Unternehmen von Rekord zu Rekord schwingen, muss Deutschlands Vorzeigeunternehmen für Unternehmenssoftware einen herben Rückschlag hinnehmen. Mich interessieren dabei weniger die konkreten Zahlen als das Dilemma, in dem sich SAP befindet. Denn SAP vollzieht gerade einen fundamentalen Wandel vom Verkauf von Lizenzen (altes Geschäftsmodell) zum Mietgeschäft über die Cloud (neues Geschäftsmodell). Die Cloud, also das Bereitstellen der Unternehmenssoftware in den Rechenzentren der SAP, die Vermietung dieser Software an die Kunden und die Verrechnung nach Nutzung bzw. im Abonnement, stellt eine disruptive Innovation ganz im Sinne von Clayton M. Christensen dar.

Es stellt sich also die Frage, ob SAP den Herausforderungen dieser disruptiven Innovation gewachsen ist? Aufgrund der vorliegenden Zahlen liefert das Cloud-Geschäft offensichtlich noch nicht den dafür notwendigen Beitrag. In dem o.g. Artikel heißt es dazu: „…, denn das Cloudgeschäft ist noch immer nicht so profitabel wie die Softwareverkäufe gegen einmalige Lizenzgebühren.“

Obwohl die SAP also seit Jahren über das Cloud-Geschäft spricht und enorme Gelder investiert, scheint der Konzern den Anschluss verloren zu haben. Diese Tendenzen und insbesondere die Aussagen von Finanzvorstand Luka Mucic in einem Welt-Interview haben mich an die fatalen Aussagen von Clayton M. Christensen über Unternehmen erinnert, die den Wandel bei disruptiven Innovationen nicht meistern, ja nicht meistern können. Vergleichen wir also einmal die Aussagen von Christensen über Disruptionen und ihre Auswirkungen auf etablierte Unternehmen mit den uns bekannten Informationen über SAP.

Gleich in der Einführung zu seinem Buch geht Christensen auf die „Logik des Scheiterns“ (S. 6) ein. Sie beruht auf drei Erkenntnissäulen (S. 6-8):

Die erste Säule bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen evolutionären und disruptiven Technologien. Laut Christensen führen disruptive Technologien (in unserem Fall das Cloud-Geschäft) zunächst zu schlechteren Produkten. Er schreibt: „Paradoxerweise sind sie es [die disruptiven Technologien – Anm. des Autors], die bislang führende Unternehmen zu Fall bringen. Sie sprechen einen anderen Kundennutzen an. In aller Regel können Produkte, die auf Basis disruptiver Technologien entstehen, nicht mit der Leistungsfähigkeit etablierter Produkte Schritt halten. Dafür haben sie andere Qualitäten. Und gerade deshalb werden sie von einer kleinen Gruppe neuer Kunden geschätzt. Produkte auf der Grundlage disruptiver Technologien sind oftmals billiger, einfacher und nicht selten bequemer.“

Disruptionen beginnen also langsam in einer Nische zu wachsen, die für etablierte Unternehmen völlig uninteressant ist. Kleiner Markt, wenige Kunden, geringe Marge. So können sich neue Unternehmen, die Disruptoren wie im Cloud-Geschäft beispielsweise Salesforce, völlig ungestört entwickeln. Über die Zeit wachsen die disruptiven Lösungen hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit und stoßen Schritt für Schritt in den Leistungsbereich der etablierten Lösungen vor (hier also das SAP-Stammgeschäft). Nach für nach erkennen auch die Kunden des etablierten Unternehmens die Vorteile des Disruptors und schwenken zur Konkurrenz, da der bisherige Platzhirsch keine adäquate Alternative anbieten kann. Genau an diesem Punkt scheint mir die SAP zu sein!

Diese Entwicklung hängt eng mit der zweiten Erkenntnissäule des Scheiterns zusammen, dass nämlich etablierte Unternehmen mit ihren bisherigen Lösungen über das Ziel hinausschießen, ihr Angebot also „overengineeren“. Dazu Christensen:

„Im Bestreben, bessere Produkte als ihre Wettbewerber zu entwickeln und damit höhere Margen zu erzielen, schießen die Unternehmen über das Ziel hinaus. Sie bieten ihren Kunden mehr als sie brauchen und auch mehr als sie dafür zu zahlen bereit sind. Das schafft Raum für disruptive Technologien. Sie liegen zunächst noch weit hinter der Leistungsfähigkeit einer evolutionären Technologie zurück, können aber über die Zeit durchaus volle Wettbewerbsfähigkeit erlangen.“

Ergänzend dazu schreibt Christensen auf S. 17: „Damit tragen sie [also die etablierten Unternehmen – Anm. des Autors] selbst gehörig dazu bei, dass sich unterhalb ihrer Produktleistung ein Vakuum entwickelt, das Raum schafft für einfachere und billigere Produkte. Sie selbst ebnen damit neuen Konkurrenten den Weg, die auf Basis disruptiver Technologien in den Markt eintreten.“

Besser kann man es wahrscheinlich nicht auf den Punkt bringen und trifft auf das Dilemma im Hause SAP vollumfänglich zu. Der für mich allerdings wichtigste Punkt adressiert Christensen in seiner dritten Erkenntnissäule. Er schreibt (S. 8):

„Die dritte Säule unserer ‚Logik des Scheiterns‘ betrifft die Art und Weise, wie etablierte Unternehmen ihre Investitionsentscheidungen treffen. Für diese Unternehmen macht es prima vista wenig Sinn, in disruptive Technologien zu investieren. Das hat drei Gründe: Erstens sind disruptive Produkte einfacher, billiger und lassen eher niedrigere als höhere Margen erwarten. Zum Zweiten finden disruptive Produkte zunächst nur den Weg in unbedeutende Marktsegmente. Und drittens haben die profitablen Stammkunden keine Verwendung für diese Produkte. Eine disruptive Technologie wird – in aller Regel – zunächst von wenig attraktiven Kunden nachgefragt. Unternehmen, die auf ihre wichtigsten Kunden hören, setzen primär auf Innovationen, die hohe Gewinne und Wachstum versprechen. Investitionen in disruptive Technologien lösen die Versprechen nicht ein.“

Ziehen wir jetzt noch die Aussagen von Luka Mucic aus o.a. Interview hinzu, so wird die fatale Situation augenscheinlich. So entgegnet Mucic ab Minute 2:40 des Interviews auf die Frage, warum die SAP nicht früher und konsequenter in das Cloudgeschäft eingestiegen sei: „Jetzt sehen wir allerdings, nachdem die Kunden merken, wie wichtig es ist, rasch durch cloudbasierte Lösungen ihre Geschäftsprozesse simplifizieren und standardisieren zu können und auch eine größere operative Resilienz zu erhalten, dass auch für unsere Kern-ERP-Lösungen die Kunden ganz klar von uns ein vereinfachtes Cloud-Angebot wünschen und in diesen Bedarf wollen wir uns auch hineinlehnen und jetzt tatsächlich fundamental und sehr rasch die Transformation voll und ganz zum Cloudgeschäftsmodell bewerkstelligen.“

Diese Aussagen zeigen sehr schön, wie die disruptive Cloud-Technologie offensichtlich den Reifegrad erreicht hat, um auch das Stammgeschäft der SAP zu gefährden. SAP hat zudem keine passenden Lösungen parat, denn sonst müsste SAP ja wohl kaum verkünden, jetzt vollumfänglich in das Cloudgeschäft einzusteigen. Hier muss man natürlich die naheliegende Frage stellen, warum das erst jetzt geschieht?

Weiter sagt Mucic ab Minute 3:46: „Deswegen ist das [also in das Cloudgeschäft voll und ganz einzusteigen – Anm. des Autors] jetzt der richtige Schritt, sich in die Krise hineinzulehnen und die daraus resultierenden Änderungen im Kaufverhalten zu antizipieren. Wenn wir das zwei, drei Jahre früher gemacht hätten, dann wären wir jetzt vielleicht einen Schritt weiter. Auf der anderen Seite waren damals die Rahmenbedingungen und auch die Kundenpräferenzen in der Tat noch andere.“

Das sind Aussagen für ein ganz typisches Fehlverhalten von etablierten Unternehmen beim Auftreten disruptiver Technologien im Sinne von Christensen: Die starke Abhängigkeit von Kunden und deren Bedürfnissen! Und genau hier liegt das Problem: SAP hat zu sehr auf ihre Kunden gehört und damit den Anschluss im Cloud-Geschäft schlicht verschlafen!

Zusammenfassend können wir festhalten: Die uns vorliegenden Informationen lassen fatale Parallelen zum Scheitern erfolgreicher Unternehmen beim Auftreten disruptiver Technologien erkennen. Adäquate SAP-Cloudlösungen scheint es nicht zu geben und die Zukäufe zum Kaschieren von Lücken bereiten zum Teil eher Probleme als Freude (Luka Mucic spricht beispielsweise selbst Concur an). Der Kurssturz ist aus dieser Sichtweise mehr als nachvollziehbar. Als ehemaliger SAP-Mitarbeiter, der dieses Unternehmen sehr zu schätzen gelernt hat und viele erfreuliche Erinnerungen mit ihm verbindet, tut das richtig weh. Hoffen wir mal, dass die SAP den Turnaround schafft und diese Herausforderung meistern kann. Immerhin hat die SAP eine treue Kundenbasis. Allerdings bedeutet der Wechsel von dem etablierten SAP-Produkt auf Cloudlösungen für die betroffenen Unternehmen einen erheblichen Aufwand und gestaltet sich selbst innerhalb der SAP-Welt wahrscheinlich ähnlich aufwändig, als wenn man gleich zu einem neuen Anbieter wechselt. Wie groß die Treue innerhalb der SAP-Kundenlandschaft sein wird, ist also mitentscheidend, wie gut SAP aus dieser Misere herauskommt. Ich drücke jedenfalls die Daumen und vielleicht kann der „Prozessgesteuerte Ansatz“ ja zur Bewätligung beitragen! 😉

[1] Christensen, Clayton M.: The Innovator’s Dilemma – Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren. München: Verlag Franz Vahlen, 2013, ISBN-13: 978-3800637911

Dr. Daniel Stelter: Prozessversagen in der Berliner Verwaltung

Heute möchte ich einmal mehr auf einen Podcast von Dr. Daniel Stelter aufmerksam machen. Diesmal hat er es auf unsere Landeshauptstadt Berlin und dessen Verwaltung abgesehen. Dr. Stelter diskutiert besonders krasse Beispiele von eklatantem Prozessversagen. In seinem Podcast mit dem Titel „Glanz und Provinzialität der deutschen Hauptstadt“ nimmt er folgende Prozesse aufs Korn, die in Berlin offensichtlich nicht funktionieren und für Spott sorgen (Minuten 4:47 bis 11:56):

  • Abwicklung von Bauanträgen
  • Ausstellung von Ausweispapieren
  • Besonders köstlich: Antragsprozess für neue iPads an Berliner Schulen über Excel-Listen

Fazit von Dr. Stelter (ab Minute 7:35, frei zusammengefasst): Die öffentliche Verwaltung in Berlin kann offensichtlich ihre Grundaufgaben nicht erfüllen und das liegt offensichtlich daran, dass es um die Digitalisierung nicht sonderlich gut bestellt ist.

Wir haben es also einmal mehr mit dem für mich sehr wichtigen Zusammenhang von „Digitalisierung“ und „Prozessautomatisierung“ zu tun – genau das Thema, bei dem der „Prozessgesteuerte Ansatz“ als die entscheidende Komponente zur Lösung dieser Probleme beitragen könnte!

Hört man sich die oben genannten Minuten des Podcasts an, so könnte man herzlich darüber lachen, wenn es nicht so traurig wäre. So lauscht man fassungslos! Es ist, und hier verwende ich einen Ausdruck aus dem Podcast, schlichtweg „erbärmlich“ (Minute 7:34)! Trotzdem wünsche ich Ihnen jetzt viel Spaß beim Anhören dieser herrlichen Auswahl an unfassbaren Vorfällen. Höchste Zeit also für den Einsatz des „Prozessgesteuerten Ansatzes“! 😉

Prof. Scheer: „Die Innovationskraft liegt in den Prozessen!“

Für die Vorbereitung des neuen Wintersemesters stolpert man hin und wieder über die eine oder andere Perle. Eine dieser Perlen ist ein sehr empfehlenswertes Interview mit Prof. Scheer aus dem Jahre 2013 (!!!) über Trends im Geschäftsprozessmanagement. Es wurde auf YouTube unter https://www.youtube.com/watch?v=XU69q7pZh0Y veröffentlicht. Ich fand die Aussagen des Interviews so interessant und vor allem zeitlos, dass ich den Link auch hier in meinem Blog mit Ihnen teilen möchte.

Die für mich wesentlichen Aussagen des Videos lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  1. Prozessinnovationen bewegen ganze Branchen (z.B. Industrie 4.0, Handel mit neuen Logistikprozessen, Banken); Dienstleister bieten jetzt auch Produkte an und umgekehrt.
  2. Viele Technologieänderungen finden gleichzeitig statt (z.B. KI, Big Data, Analytics, Mobile, Cloud, 3D-Druck, Blockchain, IoT,…). Daraus resultieren neue Geschäftsmodelle, die entweder durch Prozesse begleitet werden oder bei denen Prozesse selbst Bestandteile der Lösungen bzw. Produkte sind!
  3. Wir können einen Paradigmenwechsel im Geschäftsprozessmanagement beobachten: Weg von der Standardisierung/Optimierung von Prozessen sowie der Effizienzsteigerung durch Prozesse, hin zur Individualisierung/ Flexibilisierung/Vereinfachung von Prozessen. Weg von der unterstützenden Funktion von Prozessen, stattdessen das Eingehen von Prozesse in die Produkte –> Prozesse werden wettbewerbsentscheidend! Die Innovationskraft liegt in den Prozessen!
  4. Folgerung 1: Produkt- bzw. Dienstleistungsinnovationen und Prozessinnovationen gehen Hand in Hand! Prozessmanagement wird Teil der Produktentwicklung!
  5. Folgerung 2: Prozessmanagement muss kontinuierlich und in allen Bereichen eines Unternehmens betrieben werden, da Prozesse Bestandteile des Geschäftsmodells geworden sind.

Ich bin mir ziemlich sicher: Viele Unternehmen verstehen diese Trends noch immer nicht, sind sich weder der Konsequenzen diese Aussagen bewusst noch wissen sie, wie sie damit umzugehen haben! Umso wertvoller wird dadurch der „Prozessgesteuerte Ansatz“, der die angesprochene Innovationskraft der Prozesse effizient auf die Straße bringt!